Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Kleines Lob der Komparatistik

Von Kerstin Dingeldein und Rochus Ensslin

„Sie zeigten mir, daß Dinge und Menschen je nach Nützlichkeit,
die ihnen der größte Teil der Menschheit zumißt,
an Wert gewinnen und ich folgerte daraus, daß die Poeten bestellt sind,
den Sinn und die Schönheit aller Dinge und Menschen hochzuhalten,
ohne nach ihrem Nutzen zu fragen.“
Erwin Strittmatter, Der Laden

„You know – he liked literature – and off he went.“
Tales from a Golden Age,
Jugendfreund über Bob Dylan

12 oder 13 Jahre Schulbesuch reichen in der Regel dazu aus, um einem eifrigen Leser die Liebe zur Literatur abzugewöhnen oder sie zumindest in geregelte Bahnen zu lenken. Wer sich später trotzdem dafür entscheidet, die Beschäftigung mit Literatur in den Mittelpunkt seines beruflichen Werdegangs zu stellen, dem darf unbenommen eine gewisse Widerstandsfähigkeit und Hartnäckigkeit unterstellt werden. Sollte die unbeirrte (oder unbeirrbare) Leserin sich für ein Komparatistik-Studium entscheiden, dann ist es sicher nicht die zielorientierte Karriereplanung, die ihre Wahl bestimmt. In einer Zeit, in der alle Zeichen auf Verwertbarkeit und Nützlichkeit stehen, zeugt die Wahl eines solchen Studienfachs von einer ausgeprägten Neigung, zumindest von einem starken Interesse. Nehmen wir also an: Dem Komparatistik-Studenten geht es um die Sache selbst – das Buch, den Text, die Geschichten, Geheimnisse und Wahrheiten, die darin stecken, und die es zu entdecken und der Realität einzuverleiben gilt.

Widerstandsfähigkeit, Hartnäckigkeit, Liebe zur Literatur – auch wenn der Komparatistik-Student  möglicherweise nicht alle diese Eigenschaften bereits an die Universität mitbringt, wird er sie lernen und während seines Studiums unter Beweis stellen müssen. Sind doch im Komparatistik-Studium – möglicherweise als Schutz vor allzu beliebiger Überflutung der Hörsäle  – eine Reihe von Kinken und Hürden eingebaut, die den Weg zum Ziel, sprich: zum Abschluss des Studiums, verstellen und erschweren.

Da ist zunächst die hartnäckig um sich selbst kreisende Diskussion, die das spezifisch Komparatistische der Komparatistik zu ergründen und zu legitimieren sucht. Hat die Komparatistik eine wissenschaftliche Daseinsberechtigung? Gibt es eine „Arbeitsteilung“  zwischen Nationalphilologien und Komparatistik, ist sie notwendig und sinnvoll und: Wie funktioniert sie? Hat die Komparatistik wissenschaftstheoretische Wurzeln und/oder Perspektiven, wenn ja: Welche? Welche Erkenntnisse, die andere Wissenschaften nicht liefern könnten, erarbeitet die Komparatistik und gibt es so etwas wie eine spezifisch komparatistische Methode? Wenn nicht: Wie müsste oder könnte eine Methode aussehen, die dem komparatistischen Anliegen Nachdruck verleihen könnte, welcher Themen darf oder sollte sie sich annehmen? Der Weg zum Gegenstand, zur Literatur, muss zum Beginn des Komparatistik-Studiums und dann immer wieder aufs Neue freigeräumt und eingekreist werden. Das kann abschrecken, aber (von wegen Hartnäckigkeit) auch den Durchhaltewillen anstacheln. Dass die  wissenschaftstheoretische Diskussion zwar teilweise über Gebühr ausdauernd geführt wird, aber trotzdem nicht notwendig zur Nabelschau gerät, liegt in der Natur der komparatistischen Sache: Ihr Anspruch zielt auf Öffnung, auf Überraschendes und Vielfalt , daher muss sie zwar einerseits sich und die eigene Geschichte permanent im Licht neuer Erkenntnis bewerten, nimmt dabei aber fast zwangsläufig auch die Spur neuer und neuester Entwicklungen in der Kunst und in der Welt an sich auf. Wenn die Komparatistik will – und häufig will sie – kann sie alles auf sich beziehen und sich daran reiben. In dem Ende der 90er Jahre viel beachteten Klassiker der Management-Literatur „Only the Paranoid survive“ , entwickelt der Intel-Gründer Andy Grove eine Theorie, nach der nur der Unternehmer dauerhaft erfolgreich sein kann, der permanent vor sich selbst auf der Hut ist. Die kleinste Auffälligkeit, die peripherste Marktentwicklung, das scheinbar vernachlässigenswerteste kleine Problem bieten Anlass zur kritischen Selbstreflexion und sind das Material, aus dem Innovationen gemacht werden. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass der Mann in seinem früheren Leben ein Komparatist war.

Die zweite, eng mit der komparatistischen Selbstfindungsdiskussion verknüpfte Hürde, vor der der Komparatistikstudent steht, ist die scheinbar beliebige Themen- und Textauswahl, mit der er sich konfrontiert sieht. Gattungen, Motive, Epochen, ästhetische Theorien – jedes und alles ist möglich und zwar – je nach Größe und Ausstattung eines Lehrstuhls und Inspiriertheit der Lehrenden – mehr oder weniger. Ein einheitlicher komparatistischer Kanon hat sich an deutschen Universitäten – so viel scheint sicher – bei aller Selbstfindungsdiskussion auch in den vergangenen Jahren nicht herauskristallisiert.  Die Fülle der gebotenen Themen ist ebenso eklektisch wie überwältigend. Der komparatistische – „weltphilologische“ - Anspruch wird in den Titeln von Seminaren und Vorlesungen explizit postuliert (Beispiel: „Kaufleute und Geldmenschen in der Weltliteratur vom Mittelalter bis zum Naturalismus“/ Münster , „Borges und die Weltliteratur“/Mainz) oder in der Bandbreite der unter einem Institutsdach gebündelten Angebote (Beispiel München:  „Strukturalistische Gedichtanalyse“ -  „Gilles Deleuze – die literatur- und filmwissenschaftlichen Schriften“ - „James Joyces Ulysses‘“ - „Die Gattungen der antiken Literatur“ - „Stationen des spanischen Romans“ - „Universalromantik in Skandinavien“)  zum Ausdruck gebracht. Er wird im komparatistischen Kern der Literatur selbst (Beispiel: „Goethes ‚West-östlicher Divan‘“/München), in ihren Epochen (Beispiele: „Fin de siécle“/ München, „Romantik: Poesie und Theater“) oder in ihren Gattungen („Poetik des Kriminalromans“/Mainz, „Geschichte und Poetik der Autobiographie“/Bochum) gefunden.

Doch auch die „Not“ der scheinbar beliebigen Themenfülle entpuppt sich für den Studierenden rasch als Tugend – offenbart sie doch die komparatistische Arbeitsweise als ein im Kern „wildes Denken“  mit systemischem Anspruch.  „Historische (Kul- tur-) Anthropologie ist das, was diejenigen Leute, die behaupten, historische (Kultur-)  Antrophologie zu treiben, gerade machen,“  so formuliert es der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard für seine eigene Wissenschaft und fügt hinzu: „Das ist aber keine Notlage, sondern die wissenschaftlich kreativste Situation, die man sich denken kann.“  In diesem Sinne bietet auch die Komparatistik Raum für den, der sich sein erkenntnisleitendes Interesse selbst mitbringt, der die vorgegebenen Rahmenbedingungen nutzt, um sie zu überschreiten und immer wieder neue, kreative Zugangswege zu finden. Hier hat „Neugier“ Methode. Sie wächst am Ungenügen , ist aus der Sache, aus dem Abarbeiten am Gegenstand geboren und stellt ein Movens, aber gleichzeitig auch einen wesentlichen Ertrag komparatistischen Forschens dar.

Der Komparatist, so er sich von den Rahmenbedingungen seines Studiums nicht abschrecken lässt (und er wäre/wird kein Komparatist, wenn er dies täte), verfügt am Ende seines Studiums zwar über keinen genau definierten Wissenskanon, aber das, was er weiß, ist methodisch „gesättigt“. Er kann Dingen und Phänomenen auf den Grund gehen, wie es ihnen je angemessen scheint. Er erfindet sich seine Methodik mit jedem Gegenstand neu und nutzt dabei das ständig wachsende Reservoir an Denkmodellen und Theorien, die er sich erarbeitet.

Auch im fortgeschrittenen Stadium ist (und bleibt) der Komparatist im Kern ein Entdecker. Die Literatur, die Kunst selbst werden zu Schrittmachern seines Forschens – dies in besonderem Maße in einer Welt mit zunehmenden interkulturellen Verflechtungen und Beziehungen, die eine komparatistische Leseweise geradezu herausfordern. Der nigerianische Autor Chris Abani hat z.B. jüngst mit „GraceLand“ eine Art afrikanischen Beatroman vorgelegt, in dem er den King Elvis Presley und die mit ihm verknüpften Träume und Mythen von Memphis/Tenessee nach Afrika versetzt. Wie der realistische Roman des 19. Jahrhunderts den Einbruch des städtischen Lebens ins gar nicht immer idyllische Landleben dokumentiert, tritt auch hier im Aufeinandertreffen zweier Welten ein Riss zwischen Afrika und westlicher Welt zu Tage, der die Besonderheiten, Hoffnungen, Ängste, Mutationen und Gefährdungen des jeweils anderen besonders scharf konturiert.  Globalisierung – so viel steht fest – führt in der Realität – in den Städten, den Unternehmen, den Universitäten des 21. Jahrhunderts – derzeit vor allem zu einem: Zu mehr Standards, zu stärkerer Normierung und zu immer größerer Gleichförmigkeit von Dingen und Formen.   Die interkulturelle Kompetenz, die benötigt wird, um den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen, ist dagegen – genau umgekehrt – wesentlich bestimmt von der Fähigkeit, Vielfalt zuzulassen, sie wahrzunehmen und mit ihr umzugehen. Ein Träger dieser Vielfalt ist die Kunst – die Literatur, der Film, die Musik, die Malerei – , der es qua Form gelingt, das Echte, auch im „Singulärsten und Verschrobensten der Phänomene“  zu erfassen und die „Sprengkraft“ seiner Wahrheit einer späteren Jetztzeit zu bewahren.  Auch deshalb können Leseerfahrungen zu erstaunlichen Verbindungen führen: „Thucydides writes about how words in his time have changed from their ordinary meaning, how actions and opinions can be altered in the blink of an eye. It’s like nothing has changed from his time to mine.“  So ist es wohl.

Die Literatur, die Kunst ist also – wie der Igel – immer schon da, wo die Wahrheit hin will. Aufgabe der Komparatistik ist es, sie aufzustöbern, sie zu begleiten, ihr buchstäblich auf den Fersen zu bleiben und mit einer „anschlussfähigen“ Aufarbeitung einen Beitrag zu leisten, um der globalen Welt Lebendigkeit und Individualität und damit auch Zukunftsfähigkeit zu bewahren.

Eine hehre Aufgabe - was aber hat der Komparatist (unzweifelhaft auch er ein Mensch, der mitten im wahren/falschen Leben steht und nach Brot und Arbeit dürstet) davon? Das Vorige macht deutlich: Eine ganze Menge! Zwar mündet das Komparatistik-Studium – zum Glück! - in kein spezielles Berufsbild , die während des Studiums erworbenen Fertigkeiten und Kenntnisse geben dem Komparatisten jedoch jede Chance, auch eine im klassischen Sinn erfolgreiche berufliche Karriere einzuschlagen.  Die spezifisch komparatistische Kombination aus Chaos und Disziplin, aus (um es in der Sprache der Personalentwickler zu sagen) „soft skills“ (z.B. Hartnäckigkeit, Ausdauer, geistige Flexibilität, Neugier, Selbstmotivation, Eigeninitiative, „Paranoia“...) und spezialisierten Kenntnissen über Länder, Kulturen, Denkweisen, Ausdrucksformen – häufig gepaart mit auch „exotischen“ Fremdsprachenkenntnissen – sind beste Voraussetzungen in einem zunehmend ungeordneten Arbeitsleben. Dies gilt gerade im Zeichen der – zugegeben ein wenig überstrapazierten – Globalisierung, die auch in den Köpfen und auf den Schreibtischen der Personalentwickler virulent ist, und sich z.B. in veränderten Qualifikationsprofilen niederschlägt. Auch die Theoriefähigkeit – im beruflichen Zusammenhang: die Fähigkeit, Prozesse zu analysieren, zu bewerten und zu steuern, Zusammenhänge herzustellen und einzuordnen – und die Unbefangenheit und der Mut, neue und eigene Wege zu suchen und zu gehen, sind hier gefragte Tugenden.

Der Komparatist als „der/die/das Andere“, als „bewahrender Innovator“, als Antidot zur Stromlinienförmigkeit einer – sagen wir – BWL-Studentin? Keine Garantie, aber immerhin eine Möglichkeit. Oder – um noch einmal einen großen amerikanischen Dichter zu zitieren: „You always got to be prepared but you never know for what.“   Ein komparatistisches Studium scheint dafür nicht die schlechtesten Voraussetzungen zu bieten.

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